REZENSIONEN

Eine Recherche in einem von fixen Bildern verstellten Milieu: Mit genauer Beobachtung, kommentarlos und ohne falsche Kameraderie erzählt Boxeo Constitución von drei jungen Boxern aus den ärmsten Vororten von Buenos Aires, von ihrer täglichen Anstrengung, der stickigen Luft in den schäbigen Boxhallen, der Ungeduld ihrer Trainer, den ermüdenden, ewig gleichen Übungen. Aber durch die Routine und den Alltag hindurch entstehen feine und geradezu zärtliche Porträts von drei Burschen und ihrer besonderen und seltsamen Hoffnung auf jenen großen Tag, jenen großen Kampf, that is so high and wild you’ll never have to fight another. [Ankündigungstext Filmfestival Viennale 2011]

Die Erfahrung ist ein Kamm, den dir das Leben schenkt, wenn du bereits eine Glatze hast.“ Wer derartige Weisheiten parat hat, verfügt wohl selbst über einige Lebenserfahrung. Nach 150 Kämpfen arbeitet der grauhaarige José als Trainer in einem Boxclub mitten in Buenos Aires. Im Lauf seiner Karriere hat er die ganze Welt gesehen und gibt nun sein Wissen an die jungen Männer weiter, die vom großen Erfolg träumen. Boxen ist für ihn Charaktersache, und er weiß genau, was in seinen Schülern vorgeht: „Sie würden alles geben, um es dem Leben heimzuzahlen.“ Was hier zählt, ist nicht der Kampf im Ring, sondern das Ringen mit dem Leben. Der Österreicher Jakob Weingartner hat für seinen Dokumentarfilm „Boxeo Constitución“ einige dieser jungen Männer begleitet, die im Gimnasio de Boxeo Ferrobaires, einer unter den Gleisen des Bahnhofs Constitución gelegenen Boxhalle, für ihren ersten Kampf trainieren. Die dunkle Halle, in der bei Regenwetter das Wasser am Boden steht und regelmäßig der Strom ausfällt, zeigt Weingartner als Paralleluniversum, in dem der Alltag keine Rolle mehr zu spielen scheint. Ein einziges Mal kommen die Männer zu Wort und erzählen kurz von ihrem bisherigen Leben, ihren Wünschen und Hoffnungen. Ansonsten geben die immergleichen Bewegungsabläufe und monotonen Kommandos in dieser unterirdischen Enklave ihren ganz eigenen Rhythmus vor. Von diesem Soziotop aus arbeitet sich der Film in andere Räume vor, begleitet die Protagonisten in die heimatlichen Vororte, gewährt Einblicke in deren Familienleben und Arbeitsverhältnisse. Doch vieles – etwa der Versuch der Boxer, sich gegen die Willkür der Veranstalter gewerkschaftlich zu organisieren – wird nur gestreift; oft steht eine einzige Einstellung oder ein kurzer Dialog für ein Gesellschaftsbild. Obwohl „Boxeo Constitución“ am Ende auf einen ersten Kampf zusteuert, verzichtet Weingartner darauf, dies spannungsdramaturgisch für sein Finale zu nutzen. Das ist nur konsequent, handelt es sich dabei doch nur um eine weitere Episode in einem viel größeren Kampf, der noch viel schwieriger zu gewinnen ist. [Michael Pekler, Falter]

Der Film Boxeo Constitución idealisiert das prekäre Leben nicht, doch genausowenig stellt er seine Armut aus. Er nimmt seinen Ausgang in einer Boxhalle, versteckt in den verfallenen, unterirdischen Lagerhallen des Bahnhofs von Constitución. Von dort aus folgt er seinen Boxern in ein Leben, eine persönliche Geschichte, eine Siedlung in der Peripherie, er fragt nach dem sozialen und auch politischen Stand der Dinge. Boxeo Constitución ist weniger ein Boxfilm, als ein Portrait (von Menschen aus) einer Schicht, einer sozialen Klasse und ihr Überleben. [Emilio Bernini, km 111]

Die Boxhalle als Ort, wo ein Traum auf dem Spiel steht, wo das Versprechen von einer besseren Zukunft neu aufgeladen werden kann: woanders, weit weg von hier. Sie wird umzingelt von einer Welt und ihren mutigen Helden („die Tigerin“, „die Hyäne“), ihren Palästen (dem Luna Park) und der unaufhörlichen Arbeit, vom „täglichen Überlebenskampf“, dem die Boxer sich stellen müssen. Ebenso geht es um Buenos Aires: seine harte und unerbittliche Realität, betrachtet mit dem neugierigen und präzisen Blick eines Österreichers. Weingartner begibt sich in seinem Erstlingswerk unter dieselben Bedingungen wie die seiner Protagonisten: eine Gruppe von Jugendlichen, die zwar über wenig Erfahrung verfügen, dafür aber über den notwendigen Elan, um den Sieg davonzutragen und alle Anderen zu überflügeln. [Ankündigungstext Buenos Aires Filmfestival 2012]

“Ohne Hoffnung ist der Mensch eine jämmerliche Kreatur.” Wenn Jakob Weingartner über seinen Debütfilm spricht, dann drückt er sich ebenso deutlich aus, wie es seine dokumentarischen Bilder aus dem ärmlichen Stadtteil Constitucion in Buenos Aires tun. Dort hat der gebürtige Vorarlberger zwei junge argentinische Boxer begleitet, die in einem Bunker unter dem Bahnhof für ihre Chance auf ein besseres Leben kämpfen. Eine “herzzerreißende Passionsgeschichte” habe ihn nicht interessiert, so der Regisseur in einem Zeitungsinterview, “denn das sind ja grade Leute, die sich als Kämpfer neu entwerfen wollen”. Also bleibt er in “Boxeo Constitucion” (ab Donnerstag im Kino) schön distanziert und dennoch immer nahe dran. Im Zentrum des Films stehen Federico und Colo, die sich in der unterirdischen Boxhalle ihrer Lebensrealität völlig bewusst sind, aber diese Umstände auch ändern wollen – nicht naiv, vielmehr hingebungsvoll, leidenschaftlich und voller Hoffnung. Sie quälen sich zu ihrem Debüt im Ring hin, und selbst ein Erfolg verspricht noch lange keinen Ausweg aus der prekären Lebenswelt. Aber er bietet zumindest ein Fünkchen Hoffnung. “Mit Boxen kommst du zwar nicht aus der Armut raus, aber als Arbeiter bist du noch schlechter dran”, zitiert Weingartner den amtierenden Kontinentalchampion und verweist auf die krassen ausbeuterischen Strukturen in der Arbeits- und Boxwelt Südamerikas. Seine Doku ist dabei politisch, ohne mit dem Finger auf Missstände zeigen zu müssen, ist persönlich, ohne die Armut seiner Protagonisten auszustellen, ist präzise und neugierig, ohne dabei respektlos zu werden. Es ist ein Porträt der beiden jungen Boxer und ihrer Träume ebenso wie der Stadt und ihrer Schattenseiten. Und der Sport ermöglicht den idealen Rahmen für den Einblick in eine soziale Schicht, der selten auf Augenhöhe begegnet wird. “Man kann dem Boxsport ja einiges vorwerfen, angefangen mit der Zelebrierung eines archaischen Machismo, aber Opfer sind die Jungs da unten in der Halle bestimmt keine”, so Weingartner. “Dass einige Ex-Boxer in diesem Szenario eine Boxergewerkschaft gründen, davor habe ich großen Respekt.” Der Regisseur, geboren 1979 in Feldkirch, studierte Dokumentarfilm an der Universidad del Cine in Buenos Aires und drehte dort auch seine ersten Kurzfilme, heute lebt er ebenso wie sein älterer Bruder Hans Weingartner (“Das weiße Rauschen”, “Die fetten Jahre sind vorbei”) in Berlin. Auch seine Schwester Katharina Weingartner war mit Dokus wie “Sneaker Stories” bereits in Erscheinung getreten. “Boxeo Constitucion” hatte 2011 bei der Viennale die Uraufführung gefeiert und lief seither bei mehreren Festivals weltweit. Aktuell beschäftigt sich Jakob Weingartner mit den Armenvierteln von Rio de Janeiro im Schatten von Olympia 2016. Mit dem Stoff gastierte er heuer beim Berlinale Talent Campus. [Daniel Ebner, Kulturredaktion APA]